Im April 1977 wurde auf dem Ziegenberg, einer unbewaldeten Anhöhe nördlich des Stadtzentrums der damaligen Bezirksstadt Suhl, mit den Erschließungsarbeiten für den Bau von Suhl-Nord begonnen.
Innerhalb weniger Jahre entstand ein für das dritte und vierte Jahrzehnt der DDR typisches Neubaugebiet mit sechsstöckigen Häusern in Plattenbauweise mit Fernwärmeversorgung, darin Wohnungen mit je einem Einbauschrank im Flur und einer gläsernen Durchreiche von der Küche ins Wohnzimmer und mit einem Balkon.
Ende der 1980er Jahre lebten hier bereits etwas mehr als 16 000 Menschen und es gab Schulen und Kindergärten, Kaufhallen und eine Post, Gaststätten und einen Jugendclub.
Nach dem Umbruch des Jahres 1989/90 sank die Zahl der Einwohner in der ehemaligen Bezirksstadt rapide und 2010 hatte sie bereits fast ein Drittel ihrer 1988 knapp 57 000 Einwohner verloren. Besonders stark war der Bevölkerungsrückgang in den Neubaugebieten am Stadtrand. In den 1990er Jahren wurde begonnen, die Blöcke von Suhl-Nord zu sanieren, seit der Jahrtausendwende aber werden sie nach und nach leergezogen und zurückgebaut.
2025 soll das letzte Haus verschwunden sein und danach wird der Ziegenberg wahrscheinlich wieder beinahe genau so aussehen wie in den frühen 1970er Jahren; Wiesen, ein paar Bäume, vielleicht ein Weg...
Die noch vor Kurzem in ganz Ostdeutschland so allgegenwärtigen Plattenbaugebiete werden wohl spätestens in ein bis zwei Jahrzehnten – abgesehen von den wenigen Städten, die stabile Bevölkerungszahlen aufweisen, wie etwa Jena, Weimar, Leipzig oder Dresden – nicht mehr zum allgemeinen Stadtbild gehören. Und noch viel weniger wird selbst in den verbleibenden Gebäuden die damals typische Inneneinrichtung erhalten bleiben.
Die Kornbergstraße 9-47, zwanzig Aufgänge und knapp einhundert Wohnungen, wurde bereits Anfang 2010 abgerissen und bot Ende 2009 die letzte Möglichkeit, einen Blick in das Innere der Wohnungen zu werfen und zu dokumentieren, was schon bald nicht mehr dokumentiert werden kann, und in der wir trotz der Leere, die auch schon zu sehen ist, noch immer einen kleinen Einblick in die Wohnkultur des ersten Jahrzehnts nach der Jahrtausendwende gewinnen können.
Deutlich wird beim Blick aus der immer gleichen Perspektive der Wille zur Individualität, der sich in Küche und Wohnzimmer nicht nur in verschiedenen Tapeten, Fliesen und Holzverkleidungen äußert, sondern auch in räumlichen Umgestaltungen, im Aufbrechen und Verschließen von Wänden und Türen, in dem Einfügen von Rundbögen oder der optischen Verlängerung der Küchenzeile in den als Wohnzimmer gedachten Raum. Häufig ist die Verwendung von Holz und Holzimitaten, von Tapete mit Fachwerk- und Backsteinmuster. Der glatte Beton wird verkleidet, verdeckt, zum Verschwinden gebracht.
In den Bädern scheint der Gestaltungsspielraum geringer, aber auch hier zeigt sich Kreativität in eigenwilligen Fliesenmustern und eingefügten Eckablagen, in bunten Aufklebern, die Unterwasserwelten darstellen, in farbig abgesetzten Elementen oder eingefügten Spiegelfliesen, die den kleinen Raum optisch vergrößern.
Ein vergleichender Blick in die verlassenen und nun leerstehenden Wohnungen wird möglich, wenn die Bewohner ausgezogen und die Türen offen sind. Kleine Welten, genormte Räume und die Spuren von Leben, von Individualität. Vormals hinter verschlossenen Türen verborgene Sehnsüchte lassen sich ablesen von Plakaten, Tapeten und Verkleidungen. Der Wunsch, sich wohlzufühlen und es gemütlich zu haben, die eigene intime Umwelt individuell – und dabei immer stark geprägt durch die Mode und die Muster des Zeitgeschmacks – zu gestalten, wird erkennbar in den Resten und Ruinen des DDR-sozialistischen Hauses.
Bemerkenswert, und doch erst auf den zweiten Blick erkennbar, ist die Abwesenheit von Grafittis und Vandalismus. Die Fenster und die Türen fehlen, der Abriss scheint in vollem Gange, aber Verwahrlosung oder Zerstörungswut ist nicht zu finden. Es scheint ein lautloses, ein von keinem Protest begleitetes Verschwinden zu sein, ein langsames Vergehen, ein Abschied ohne Schmerz, ohne Trauer, ohne Verlust.