Kurze und lange Arme

»Nachdem eine richtige politische Linie ausgearbeitet und in der Praxis erprobt ist, sind die Parteikader die entscheidende Kraft.« Nach dieser Maxime Stalins hat die SED zeit ihrer Existenz gehandelt. Die Parteikader der regionalen und lokalen Entscheidungsebene sind Gegenstand des Sammelbandes. Untersucht werden Herrschaftspraxis und Arbeitsalltag der Erste und Zweite Sekretäre der Kreis- und Bezirksleitungen der SED am Beispiel der Parteiorganisationen in den einstigen Bezirken Erfurt, Gera und Suhl einschließlich der Gebietsparteiorganisation Wismut. Thematisiert werden ihre Entscheidungs- und Handlungsspielräume, ihre Karrieremuster und ihr Selbstverständnis, wobei daran zu erinnern ist, daß es sich um Nomenklaturkader handelte: Für die Einsetzung in ihre Funktionen bedurften sie der Bestätigung durch das Sekretariat des Zentralkomitees. Manche Kaderentscheidungen fielen sogar im Politbüro.

Eingebettet in die Untersuchung ist eine Analyse der bürokratisch-organisatorischen Strukturen der SED, ihrer Leitungsorgane und Parteiapparate unter Zugrundelegung der fünf Statuten, die sich die Staatspartei der DDR in ihrer Geschichte gegeben hat. Die Herausgeber und weitere elf Autorinnen und Autoren haben sich auf ein Themenfeld begeben, das bislang kaum beackert wurde – sieht man einmal von den Arbeiten ab, die Peter Christian Ludz vor Jahrzehnten publiziert hat. Außer auf interne Akten und Archivalien der SED konnten sie ihre Arbeit auf sechzehn Interviews mit ehemaligen Ersten und Zweiten Kreissekretären stützen sowie auf die Daten zweier elektronischer Personendatenspeicher des DDR-Ministerrates.

Mit ihrem opulenten Werk, Umfang 824 Seiten, schlagen sie Schneisen der Erkenntnis in das Dickicht der Parteidiktatur. Sie leisten einen hoch beachtenswerten Beitrag zur Herrschafts- und Organisationssoziologie der SED und zugleich zur thüringischen Regionalgeschichte. In Einzelstudien allerdings unterschiedlicher Qualität zeigen sie spezifische Aspekte der strukturellen Entwicklung der DDR-Staatspartei auf, ihren Zuschnitt auf die Erfordernisse der Machtsicherung und der realsozialistischen Planwirtschaft. Kenntlich werden die Trägheit des Apparates und in seinem Widersinn der »demokratische Zentralismus« als Strukturprinzip der SED. »Das Dilemma zwischen der Durchsetzung und Kontrolle übergeordneter Beschlüsse sowie der Einbeziehung der nachgeordneten Ebenen in die Entscheidungsfindung, ohne damit jedoch das Machtmonopol zentraler Instanzen in Frage zu stellen, begleitete die DDR und die sie beherrschende Partei bis zum Ende des Jahres 1989.« Das ist die Quintessenz.

Ein Gewinn ist auch der als Nachschlagewerk angelegte dritte Teil des Buches, in dem sämtliche Erste und Zweite Sekretäre der SED, die seit den fünfziger Jahren in den thüringischen Bezirken und Kreisen gewirkt haben, namentlich aufgelistet und regional zugeordnet werden, ergänzt durch ihre Kurzbiographien, 450 an der Zahl. Ein Orts- und ein Personenregister beschließen die gediegene Arbeit.

Unter den Kurzbiographien fehlt leider eine zeithistorisch besonders interessante - die von Ewald Christiansen, dem ehemaligen Ersten Sekretär der Kreisleitung Lobenstein, Bezirk Gera. Nach seiner Flucht nach West-Berlin im November 1953 wurde der »Verräter« ein Jahr später von Stasi-Agenten nach Ost-Berlin entführt. Das Bezirksgericht Rostock verurteilte ihn 1955 zu lebenslänglich Zuchthaus. Nach fünfzehn Haftjahren wurde er vom »Klassenfeind« freigekauft. Warum fehlen seine Daten?

 

Karl Wilhelm Fricke am 8. März 2005 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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© Daniel Weißbrodt